Sonntag, 4. März 2012





Ach, meine lieben Mitspaziererinnen und Mitspazierer, jetzt ist es doch schon eine sehr gute Weile her, dass wir mal zusammen durch unser ach so geliebtes Viertel spaziert sind. Ja ja, Sie haben ja so recht, an Ihnen liegt es nicht. Ich war es, die so lange zwar nicht faul auf dem Sofa lag aber doch weitab der ausgetretenen Flanierstrecken hinterm Sendlinger Tor verkehrte. Und mir das Resthirn zermarterte, ob ich denn die Spaziergängerin noch mal auf die Menschheit loslassen soll. Schließlich ist einiges Wasser die Isar hinab und vermutlich nicht recht viel weniger Latte Macchiato die Strohhälme der Glockenbachmuttis hinaufgeflossen, seit die Spaziergängerin beim Szenebladl Servus gesagt hat.

Ja, es hat sich viel verändert in diesem einen Jahr, und ich würde den Pinocchio wie ein Pfannenkuchengesicht aussehen lassen, wenn ich ernsthaft behaupten würde, dass es besser geworden ist in unserer kleinen Welt. Wenn Sie, werte Neuleser, sich jetzt fragen, welche Welt die Alte meint und wer „uns“ in diesem Falle wohl sein möge – sehen, Sie, genau das frage ich mich auch. Natürlich hat „uns“ Lesben und Schwulen, mit diversen Sternen versehenen T's und all' den anderen, die sich in den kleinen Schubladen dieser selbsternannten Weltstadt nicht so ganz wohl fühlten, nie wirklich gehört. Aber wenigstens hat es sich lange so angefühlt, als ob es unser Viertel sei. Wir hatten zwischen dem Restcharme eines verblühenden Arbeiterquartiers, den kleinen Läden mit mehr oder minder nützlichem Sortiment und den wenigen bereits von der Luxussanierung heimgesuchten Ecken unsere Plätze. Manche waren voller Legenden und manche waren legendär grauenhaft, doch sie waren unser. In der Teddy-Bar konnte man sich fragen ob der Barhocker je gewischt wurde seit Freddy Mercury drauf saß. Wir dachten, die Patina in Fred's Pup würde jedem Angriff der Realität standhalten und die Hannelore gleich der Sphinx für die Ewigkeit vor dem Henderson wie gemeißelt stehen. Wir waren Selig und besoffen nicht nur von billigem Prosecco sondern von der Vorstellung, in der wie auch immer definierten Mitte einer Gesellschaft angekommen zu sein, die uns in Wirklichkeit schon längst assimiliert hatte. Während wir uns gerade auf dem Höhepunkt unserer Gay-Culture wähnten, hatte der Liftboy der Geschichte schon längst auf „0“ gedrückt. Die Stockwerke rauschten vorbei, angefangen in der Plattenabteilung. Für die Jüngeren unter Ihnen: das war eine Etage im großen Kaufhaus der Kulturen, in dem physikalisch manifeste Tonträger verkauft wurden. Also im Prinzip so etwas wie der iTunes-Store mit echten Regalen. Und davor standen echte Menschen. Die über Musik redeten, flirteten, auf Ärsche und Titten schauten und so ganz im vorbeilaufen Stile und Moden kreierten. Auch wenn Sie es sich vielleicht nicht so ganz vorstellen können: es gab einmal eine Zeit, da gingen Heteros in schwule Diskotheken, weil da die angesagteste Musik zu hören und die hippsten Klamotten zu sehen waren. Die Leute kamen aus New York ins New York, Fassbinder zelebrierte seinen Größenwahn in dem gleichnamigen Tanzlokal, Mercury drehte Videos im Hendersen und die Welt sich um München. Doch sie drehte sich bald weiter. Das Tanzlokal ging, das Alcatraz auch, die Legenden bildeten sich, wir tanzten uns die Füße wund und vergaßen darüber die Welt. Und rauschten ungebremst durch bis in das Erdgeschoß zu den Sonderangeboten und den Marktschreiern mit ihrem Ramsch. Zwischen dem Börner V-Hobel, der seit 50 Jahre behauptet eine Weltneuheit zu sein und grässlichen Swarowsky-Orgien stehen wir da, wie aus der Zeit gefallen und verkaufen uns als Trendsetter eines Trends, der schon Ende letzten Jahrtausends bestenfalls Mainstream war.

Ach ja, die Zeit. Ein Jahr ist es her, dass ich das letzte Mal im Szenebladl spazieren ging, und viel Wasser ist die Isar runter. Wie, das hatte ich schon am Anfang? Ja, mit Verlaub, ich gestatte es mir, mich zu wiederholen. Schließlich wiederholt sich letztlich alles immer irgendwie. Oder hätten Sie gedacht, sich noch einmal eine Jeans mit Reißverschlüssen an den Beinen zu kaufen? Sehen, Sie, und darum wiederhole ich mich eben auch. Spaziere jetzt im Frühjahr wieder durch die Straßen dieses zwar eigenartig vertrauten und mir doch immer fremder und ferner werdenden Viertels, hoffe noch auf vertraute Gesichter und sehe in manchem Schatten längst vergangene Originalität. Inmitten dieser uniformen Wüste, plattplaniert aus Political Correctness, gestrichen mit Raffgier und überwürzt mit der für diese Stadt zum Markenzeichen gewordenen maßlosen Selbstüberschätzung suche ich nach den ersten zarten Sprossen des Frühlings. Nach nur einem Krokus, der Hoffnung gibt, dass sich auch die großen Zeiten dieser Szene wiederholen könnten. Dem leisen Anflug eines lauen Lüftchens, dass zu dem Sturm wächst, der nötig wäre um die Kleinkariertheit und Provinzialität aus dem Glockenbach zu blasen. Und bei der Gelegenheit gleich auch noch aus dem Rest der Stadt. Denn wir brauchen keine „neue Szene“ und keine großen neuen Szenemacher. Diese Sorte Selbstdarsteller hat die Community demontiert und der Beliebigkeit Preis gegeben. Mit ihren immer gleichen aufgeblasenen Partys und dem idiotischen Wichtiggetue ohne jeden Inhalt haben sie den Kommerz zum Konzept und die Ideenlosigkeit zum Ideal erkoren. Wir brauchen euch nicht und auch nicht eure gemieteten Stretch-Limous und geleasten Cayennes. Lasst eure lächerlichen Membercards für eure Nullnummern stecken und verschont uns mit euren VIP-Lounges. Wir sind die Party, nicht ihr, die Community ist nicht euer Spielplatz und wir nicht eure Crowd.

Nein, alles was wir brauchen ist ein bisserl Gefühl für uns selbst und diese Stadt. Früher hieß das mal Spirit, und genau der ist es, der fehlt, der und die Originale, die Gesichter und die Typen. Lasst uns die Bügeleisen einmotten und das wieder aus dem Keller holen was uns einst auszeichnete: unsere Lust am Leben, unsere Kreativität und das Anarchische. Lasst uns diese Stadt zurückerobern von den Anlageberatern und Immobilienmaklern, reissen wir den Glockenbachmuttis den Strohhalm aus der Latte und zeigen ihnen, wie man auf der Straße tanzt. Lasst es uns einfach noch einmal probieren, noch einmal einen Sommer lang das Pflaster der Stadt zum Kochen bringen. Lasst uns aufhören vor den Konventionen zu buckeln und so sehr mittig zu werden dass selbst die Spießer uns zu langweilig finden, um sich über uns aufzuregen.

Und wenn das alles nicht klappt und wir im Herbst dastehen und uns fragen, wo es diesen langen Winter noch ein warmes Plätzchen für uns gibt, dann können wir immer noch nach Berlin, Köln, London oder Ingolstadt ziehen.

Ich bin Sarah Jäckel und möchte es einfach noch nicht glauben müssen, dass der Kampf um unsere Community längst verloren ist.
Und darum wünsche ich euch einen bunten, wilden, warmen und vor allem geilen Frühling.
Und eine großen Batzen Kampfgeist mit dazu.