Ach,
meine lieben Mitspaziererinnen und Mitspazierer, jetzt ist es doch
schon eine sehr gute Weile her, dass wir mal zusammen durch unser ach
so geliebtes Viertel spaziert sind. Ja ja, Sie haben ja so recht, an
Ihnen liegt es nicht. Ich war es, die so lange zwar nicht faul auf
dem Sofa lag aber doch weitab der ausgetretenen Flanierstrecken
hinterm Sendlinger Tor verkehrte. Und mir das Resthirn zermarterte,
ob ich denn die Spaziergängerin noch mal auf die Menschheit
loslassen soll. Schließlich ist einiges Wasser die Isar hinab und
vermutlich nicht recht viel weniger Latte Macchiato die Strohhälme
der Glockenbachmuttis hinaufgeflossen, seit die Spaziergängerin beim
Szenebladl Servus gesagt hat.
Ja,
es hat sich viel verändert in diesem einen Jahr, und ich würde den
Pinocchio wie ein Pfannenkuchengesicht aussehen lassen, wenn ich
ernsthaft behaupten würde, dass es besser geworden ist in unserer
kleinen Welt. Wenn Sie, werte Neuleser, sich jetzt fragen, welche
Welt die Alte meint und wer „uns“ in diesem Falle wohl sein möge
– sehen, Sie, genau das frage ich mich auch. Natürlich hat „uns“
Lesben und Schwulen, mit diversen Sternen versehenen T's und all' den
anderen, die sich in den kleinen Schubladen dieser selbsternannten
Weltstadt nicht so ganz wohl fühlten, nie wirklich gehört. Aber
wenigstens hat es sich lange so angefühlt, als ob es unser Viertel
sei. Wir hatten zwischen dem Restcharme eines verblühenden
Arbeiterquartiers, den kleinen Läden mit mehr oder minder nützlichem
Sortiment und den wenigen bereits von der Luxussanierung
heimgesuchten Ecken unsere Plätze. Manche waren voller Legenden und
manche waren legendär grauenhaft, doch sie waren unser. In der
Teddy-Bar konnte man sich fragen ob der Barhocker je gewischt wurde
seit Freddy Mercury drauf saß. Wir dachten, die Patina in Fred's Pup
würde jedem Angriff der Realität standhalten und die Hannelore
gleich der Sphinx für die Ewigkeit vor dem Henderson wie gemeißelt
stehen. Wir waren Selig und besoffen nicht nur von billigem Prosecco
sondern von der Vorstellung, in der wie auch immer definierten Mitte
einer Gesellschaft angekommen zu sein, die uns in Wirklichkeit schon
längst assimiliert hatte. Während wir uns gerade auf dem Höhepunkt
unserer Gay-Culture wähnten, hatte der Liftboy der Geschichte schon
längst auf „0“ gedrückt. Die Stockwerke rauschten vorbei,
angefangen in der Plattenabteilung. Für die Jüngeren unter Ihnen:
das war eine Etage im großen Kaufhaus der Kulturen, in dem
physikalisch manifeste Tonträger verkauft wurden. Also im Prinzip so
etwas wie der iTunes-Store mit echten Regalen. Und davor standen
echte Menschen. Die über Musik redeten, flirteten, auf Ärsche und
Titten schauten und so ganz im vorbeilaufen Stile und Moden
kreierten. Auch wenn Sie es sich vielleicht nicht so ganz vorstellen
können: es gab einmal eine Zeit, da gingen Heteros in schwule
Diskotheken, weil da die angesagteste Musik zu hören und die
hippsten Klamotten zu sehen waren. Die Leute kamen aus New York ins
New York, Fassbinder zelebrierte seinen Größenwahn in dem
gleichnamigen Tanzlokal, Mercury drehte Videos im Hendersen und die
Welt sich um München. Doch sie drehte sich bald weiter. Das
Tanzlokal ging, das Alcatraz auch, die Legenden bildeten sich, wir
tanzten uns die Füße wund und vergaßen darüber die Welt. Und
rauschten ungebremst durch bis in das Erdgeschoß zu den
Sonderangeboten und den Marktschreiern mit ihrem Ramsch. Zwischen dem
Börner V-Hobel, der seit 50 Jahre behauptet eine Weltneuheit zu sein
und grässlichen Swarowsky-Orgien stehen wir da, wie aus der Zeit
gefallen und verkaufen uns als Trendsetter eines Trends, der schon
Ende letzten Jahrtausends bestenfalls Mainstream war.
Ach
ja, die Zeit. Ein Jahr ist es her, dass ich das letzte Mal im
Szenebladl spazieren ging, und viel Wasser ist die Isar runter. Wie,
das hatte ich schon am Anfang? Ja, mit Verlaub, ich gestatte es mir,
mich zu wiederholen. Schließlich wiederholt sich letztlich alles
immer irgendwie. Oder hätten Sie gedacht, sich noch einmal eine
Jeans mit Reißverschlüssen an den Beinen zu kaufen? Sehen, Sie, und
darum wiederhole ich mich eben auch. Spaziere jetzt im Frühjahr
wieder durch die Straßen dieses zwar eigenartig vertrauten und mir
doch immer fremder und ferner werdenden Viertels, hoffe noch auf
vertraute Gesichter und sehe in manchem Schatten längst vergangene
Originalität. Inmitten dieser uniformen Wüste, plattplaniert aus
Political Correctness, gestrichen mit Raffgier und überwürzt mit der
für diese Stadt zum Markenzeichen gewordenen maßlosen
Selbstüberschätzung suche ich nach den ersten zarten Sprossen des
Frühlings. Nach nur einem Krokus, der Hoffnung gibt, dass sich auch
die großen Zeiten dieser Szene wiederholen könnten. Dem leisen
Anflug eines lauen Lüftchens, dass zu dem Sturm wächst, der nötig
wäre um die Kleinkariertheit und Provinzialität aus dem Glockenbach
zu blasen. Und bei der Gelegenheit gleich auch noch aus dem Rest der
Stadt. Denn wir brauchen keine „neue Szene“ und keine großen
neuen Szenemacher. Diese Sorte Selbstdarsteller hat die Community
demontiert und der Beliebigkeit Preis gegeben. Mit ihren immer
gleichen aufgeblasenen Partys und dem idiotischen Wichtiggetue ohne
jeden Inhalt haben sie den Kommerz zum Konzept und die Ideenlosigkeit
zum Ideal erkoren. Wir brauchen euch nicht und auch nicht eure
gemieteten Stretch-Limous und geleasten Cayennes. Lasst eure
lächerlichen Membercards für eure Nullnummern stecken und verschont uns mit euren VIP-Lounges. Wir sind die Party, nicht ihr,
die Community ist nicht euer Spielplatz und wir nicht eure Crowd.
Nein,
alles was wir brauchen ist ein bisserl Gefühl für uns selbst und
diese Stadt. Früher hieß das mal Spirit, und genau der ist es, der
fehlt, der und die Originale, die Gesichter und die Typen. Lasst uns
die Bügeleisen einmotten und das wieder aus dem Keller holen was uns
einst auszeichnete: unsere Lust am Leben, unsere Kreativität und das
Anarchische. Lasst uns diese Stadt zurückerobern von den
Anlageberatern und Immobilienmaklern, reissen wir den
Glockenbachmuttis den Strohhalm aus der Latte und zeigen ihnen, wie
man auf der Straße tanzt. Lasst es uns einfach noch einmal
probieren, noch einmal einen Sommer lang das Pflaster der Stadt zum
Kochen bringen. Lasst uns aufhören vor den Konventionen zu buckeln
und so sehr mittig zu werden dass selbst die Spießer uns zu
langweilig finden, um sich über uns aufzuregen.
Und
wenn das alles nicht klappt und wir im Herbst dastehen und uns
fragen, wo es diesen langen Winter noch ein warmes Plätzchen für
uns gibt, dann können wir immer noch nach Berlin, Köln, London oder
Ingolstadt ziehen.
Ich bin Sarah Jäckel und möchte es einfach noch nicht glauben müssen, dass der Kampf um unsere Community längst verloren ist.
Und
darum wünsche ich euch einen bunten, wilden, warmen und vor allem
geilen Frühling.
Und
eine großen Batzen Kampfgeist mit dazu.